Ich habe mich im Rahmen meines Kulturwissenschafts-Studiums mit Leonardo da Vinci beschäftigen dürfen, der nicht nur Maler, sondern auch Philosoph war – eine Verbindung, die mich sehr gefesselt und inspiriert hat. Die Beschäftigung mit ihm und seiner Vorstellung von Kunst und Philosophie hat mich zum Nachdenken auch über unsere eigene Kunst gebracht und dazu, ein paar Zeilen über den Zusammenhang von beidem zu schreiben.
Für Leonardo gehören Theorie und Praxis allgemein und Philosophie und Kunst konkret zusammen. Ich habe diesen Gedanken vorher nie bewusst ausformuliert, aber in der Beschäftigung mit Leonardos Aufzeichnungen gemerkt, dass ich das genauso sehe. Kunst zu schaffen ist für mich nicht nur ein rein handwerkliches und nicht einmal ein rein emotionales Tun, sondern immer mit einem Denken verbunden. In der Kunst drücke ich aus, was ich denke. Nicht alles kann man sprachlich oder gar begrifflich fassen. Kunst dagegen kann darstellen, was Worte nicht können. Außerdem gehört für mich zur Kunst auch eine theoretische und fast immer auch philosophische Auseinandersetzung mit bestimmten Themen. So frage ich mich z. B., aus welchen Gründen Menschen etwas schön oder nicht schön finden, ob das rein subjektive Werturteile sind oder ob es universelle Strukturen gibt, die Menschen als schön empfinden. Um diesen, meiner Ansicht nach sehr spannenden, Fragen nachzugehen, ziehe ich zusätzlich Philosophen heran und lese, welche Gedanken sich diese dazu gemacht haben. Das geistige, ja philosophische Sich-Auseinandersetzen mit einem Thema und das praktische, künstlerische Tun gehören für mich also ebenfalls untrennbar zusammen. Bei Leonardo beruht sogar sein gesamtes Schaffen auf dieser Verbindung.
Der zweite Zusammenhang zwischen unserer Kunst und Leonardo ist etwas konkreter: Leonardo hat das Ziel, mit seinen Werken die Seele der abgebildeten Person zu zeigen und sie durch den künstlerischen Prozess überhaupt erst aufzuspüren. Denn die Seele – oder wie man heute vielleicht eher sagt, aber auch Leonardo schon schrieb: das Innere, das, was diesen einen bestimmten Menschen ausmacht – zeigt sich oftmals erst, wenn dieser Mensch sich öffnet, loslässt, Vertrauen fasst.
Genau das ist sowohl der Weg als auch das Ziel der Fotografie meines Lebensgefährten und mir. Er hat als Fotograf schon immer versucht, eine Situation zu schaffen, in der die fotografierte Person ganz sie selbst sein, sich fallen lassen und den Moment und sich selbst wirklich annehmen kann. Dadurch entstehen besondere Bilder. Bilder, die den Betrachter ganz eigentümlich berühren, die vollkommen authentisch bis selbstvergessen wirken und damit eine Anziehungskraft aufbauen, die andere Bilder nicht erreichen.
In unserer gemeinsamen Arbeit führen wir diesen Ansatz fort und können uns dabei durch unsere verschiedenen Perspektiven ergänzen. Er als Fotograf, der wie Leonardo die Seele des Menschen sucht, aufrichtiges Interesse für diese Person hat und diese besonderen Bilder erschafft. Ich nehme die andere Perspektive ein: Ich bin das Fotomodell. Somit kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, dass dieser Prozess tatsächlich so ist, wie eben beschrieben. Es herrscht eine Stimmung von Vertrauen, ehrlichem Interesse an mir als Person und nicht nur als Bildmotiv, von Mitbestimmung, künstlerischer Freiheit und dem Frei-Sein von äußerlichen Grenzen und Normen. Ich kann also genau das, was ich theoretisch durchdrungen und in Leonardos Texten gefunden habe und was ich auf den Bildern meines Partners sehe und fühle, durch eigenes Erleben vor der Kamera bekräftigen.
Hinzu kommt, dass unsere Bilder Akte sind. Die Nacktheit ist etwas, dass sich von Leonardos meisten Bildern unterscheidet, aber der Ansatz ist der gleiche, sogar eine Steigerung dessen. Denn durch die Nacktheit – auch das kann ich aus der Perspektive des Modells sowie der Betrachterin bestätigen – findet sich der Weg in das Innere besser, das Loslassen und Frei-Sein fällt leichter. Denn mit der Verletzlichkeit der Nacktheit findet sich eine große Stärke und Selbstbewusstheit und mit dem Ablegen der Kleider legt man gesellschaftliche Regeln und Kategorien ab. Dann ist der Blick frei für die Seele bzw. die Persönlichkeit und Besonderheit des jeweiligen Menschen. Sein Wert an sich, als Mensch rückt in den Mittelpunkt. Daher verbindet sich mit der Kunst zusätzlich eine ethische Kategorie, da der Mensch als Mensch und nicht in Relation zu etwas betrachtet oder bewertet wird, wie es meist im Alltag geschieht.
Als ich festgestellt habe, dass Leonardo die gleichen Mittel und das gleiche Ziel verfolgt hat wie wir, hat mich das sehr beeindruckt. Zwar kann niemand nachvollziehen, ob sein Arbeiten tatsächlich so sehr am Menschen interessiert und so achtsam war, wie es aus seinen Schriften zu entnehmen ist. Dennoch hat mich die Auseinandersetzung mit Leonardos Gedanken inspiriert und fasziniert. Denn er hat meine Vorstellung von Kunst bestätigt: Dass sie mit Philosophie verwoben sein und das Innere und Besondere des Menschen empor bringen kann. Und er hat sie viel besser in Worte gefasst als ich es kann, was sehr bereichernd ist.
Da philosophisches Denken und Reflektieren nie ausgeht, freue ich mich darauf, mich weiter theoretisch und praktisch mit Kunst, Philosophie und dem Menschlichen zu beschäftigen. Denn wie Leonardo schrieb, ist Philosophie erst in der Kunst vollendet und Kunst ohne Philosophie sinnlos. Vielleicht ist das eine etwas drastische Aussage und richtige und falsche Vorstellungen gibt in der Kunst nicht. Aber aus meiner Arbeit als Künstlerin und als Rezipientin kann ich Leonardos Ansicht bestätigen und erlebe sie als sehr bereichernd: Einen philosophischen Gedanken, der sich nicht sprachlich artikulieren lässt, durch Kunst doch ausdrücken und anderen sinnlich erfahrbar machen zu können, ist erfüllend und Kunstwerke sowie ein Kunst-Schaffen, das mehrdeutig und philosophisch tief ist, können überaus lehrreich und anregend sein.