Warum ich Aktkunst mache.

Kunst zu machen, besonders Aktfotografie, bedeutet für mich Freiheit, Befreiung. Die Kleider abzulegen bedeutet auch, gesellschaftliche Erwartungen, Einengungen und Gleichmachendes abzulegen.
Und es bedeutet, meine persönlich aufgebauten Rüstungen abzustreifen.
Ohne Kleidung ist man wirklich nackt, physisch und psychisch.
Es ist ein Wagnis, aber eben auch eine riesige Befreiung.
Ich kann sein, wer ich bin.
Unabhängig von den gesellschaftlichen oder erzieherischen Erwartungen, eigenen Wünschen oder Ängsten. Einfach ich.
Diese Erfahrung war und ist immer wieder aufs Neue erleichternd und, so stelle ich jetzt fest, genau das, was ich immer gesucht habe.
Ich sein zu dürfen, so, wie ich bin.

Damit meine ich gar nicht, ich hätte mein wahres Ich, meinen Wesenskern gefunden – falls es dies als etwas klar Abzugrenzendes und Einheitliches überhaupt gibt.
Nein, ich darf – und erneut kommen Begriffe rund um „Freiheit“ ins Spiel – mich in all meinen Facetten ausprobieren.
Denn die Nacktheit wirkt wie eine tabula rasa. Nach der Befreiung des Ablegens all der Einschreibungen von außen bin ich unbestimmt, sodass ich mich selbst bestimmen kann. Ich kann in verschiedene Rollen schlüpfen – ganz bewusst für eine Fotosession, in der dies erwünscht wird. Oder weniger bewusst als ein Spiel mit mir selbst, ein Ausprobieren. Ich kann verschiedene Gedanken und Gefühle viel leichter zulassen, als wenn ich angezogen und in der Welt des Alltags wäre. Der Moment der Fotosession ist – zumindest bei Stephan Joachims Arbeitsweise – ein sicherer Raum, ein Ort und ein Zeitpunkt des freien und künstlerischen Auslebens von allem, was es gibt und was man fühlt. Er lässt einen sich sicher fühlen. Es herrscht Vertrauen und Akzeptanz.
Man hat Zeit. Keinen Druck. Keine Erwartungen. Keine Grenzen.
Erneut das Wort, um das es durchgehend zu gehen scheint: Freiheit.
Ich bin frei, zu tun und zu fühlen, was ich will.
Ich darf mich ausprobieren. Ich werde nicht bewertet.
Schönheitsideale, die uns durch soziale Medien aufgezwungen werden und nur unglücklich machen, haben hier keine Berechtigung.
Ich lernte – wie jeder, der sich von Stephan Joachim fotografieren ließ – mich selbst zu akzeptieren.
Mit allen Makeln. So wie ich bin. Ohne Vergleiche und Selbstabwertung, ohne Fremd- und Selbstzensur. Letzteres ist natürlich ein Lernprozess, den ich noch immer bestreite.

Denn wie vermutlich wir alle, nur unterschiedlich stark, sind mir bestimmte Regeln und Normen so in Fleisch und Blut übergegangen, dass es mir noch oft schwerfällt, sie abzulegen, auch wenn ich es nun darf.

Aber genau das sehe ich als große Chance:
Ich darf mich weiterentwickeln, mich öffnen, mich selbst erkunden.
Ich darf Seiten an mir zulassen und sogar herauslassen, die ich früher niemals akzeptiert hätte und habe.
Ich darf sein, wer oder was ich will.
Ich darf sogar eintauchen in Gefühle und Themen, die mich – und vielleicht auch Sie – erschrecken und abstoßen.
Aber auch das hat seinen Wert.
Sich mit den Abgründen des Selbst oder dem, was uns allen als Mitglieder der Spezies Mensch, als conditio humana, innewohnt, zu beschäftigen, kann bereichernde, aufklärende und vor allem kathartische Wirkungen haben.
All dies ist in der Kunst möglich. In diesem Moment.
In diesem sicheren, vertrauensvollen und künstlerischen Augenblick.

Denn Kunst kann etwas sein, das vom Alltag herausgehoben ist, das so ganz und gar nichts mit ihm zu tun hat. Dadurch ermöglicht es andere Spielregeln und Möglichkeiten.

Und dann, paradoxerweise genau durch diese Unabhängigkeit vom vermeintlich richtigen Leben, wirkt es auf dieses ein.
Als Vorbild, als geistiges Sprungbrett, als Inspiration, als Probebühne für das Leben da draußen.
Das wussten schon die klugen Köpfe der Klassik, die sich über die Bedeutung und Aufgabe der Kunst eben diese Köpfe zerbrochen haben.

Denn nach diesen künstlerischen Auseinandersetzungen mit meinem Körper und wenn ich diesen und von ihm ausgehend auch meine Psyche frei lasse, merke ich doch Auswirkungen, die über diesen Moment hinausgehen.
Ich merke, dass diese Ichs, die ich in dieser enthobenen Welt der Kunst entdecke, gar nicht schlimm sind, ich merke, dass es gar keine Gründe dafür gibt, nicht so sein zu dürfen, ich merke, dass ich mich nicht verstecken und nichts selbst zensieren oder von anderen einengen lassen muss…
Ich habe den Punkt der noch größeren, weil mein ganzes Leben und meinen ganzen Charakter betreffende Befreiung erreicht.
Ich merke, dass die Nacktheit und die Kunst mir die Augen dafür geöffnet haben, was ich auch im restlichen Leben haben kann:
Ich darf von außen auferlegte und dabei gar nicht hinreichend begründbare Regeln und Grenzen hinterfragen und ablegen.
Ich darf die vielen Facetten meines Selbst anerkennen und ausleben.
Ich darf mutig sein und frei.
Ich darf einfach ich sein.

Und das ist gut so.